Wenn Sterbenwollen und pure Glückseligkeit sich abwechseln

Ich werde verrückt, Marian, ich werde verrückt! Ich bin psychisch gestört, einfach nur psychisch gestört, schreie ich und halte mir die Ohren zu. Gib mir irgendeine Pille, die das abstellt oder besser gleich einen Schuss!

Die Gedanken rasen panisch durch meinen Kopf, seit Tagen, Wochen. Immer und konsequent gegen mich und untermauert von einem andauernden Grundgefühl von Angst. Angst vor diesem Leben, Angst vor dem geistigen Gefängnis, in dem sich ein Mensch befinden kann. Die ernsthafte Angst, komplett durchzudrehen und in eine Psychose abzurutschen. Ich kenne diese Abgründe, doch so schlimm war es sehr lang nicht mehr, vielleicht noch nie.

Dann müssen wir uns jetzt Hilfe holen, ich weiß auch nicht mehr weiter, sagt Marian verzweifelt.

Aber was, aber wen? Psychiater und Medikamente? Eine Möglichkeit, ja, aber ich weiß so tief in mir, selbst in solchen Momenten, dass das nicht mein Weg ist und mich nicht weiterbringen wird. Wie oft habe ich schon „Borderline“ gegoogelt in diesen Zeiten, mich darin wiedergefunden, etwas Linderung verspürt, für das, was ich da fühle einen Namen gefunden zu haben. Und doch gleichzeitig zu wissen, dass es das auch nicht ist. Erstens nicht „so heftig“ wie ein sich selbst verletzender und schwer misshandelter Borderliner. Und zweitens weil mich auch diese Art der Krankheitsfixierung einkerkert.

Ein Klinikaufenthalt? Da war ich schon mal, am Anfang der Schwangerschaft. Auf einer Station für Depression. Es hat mir geholfen in der Hinsicht, dass ich dem Schmerz und der völligen Erschöpfung und Leere Raum geben und sie vollkommen erlauben durfte. Für eine Zeit lang nicht die Gestörte sein, die nicht mehr klarkommt, sondern die „Kranke“, der Hilfe zur Genesung geboten wird. Aber es half mir auch, schnell zu realisieren, dass man es leider noch viel, viel schlimmer treffen kann als ich. Dass dort Menschen sind, die dort schon zum xten Mal sind. Menschen, deren ganzes Leben ein einziger Krankheitsverlauf ist. Menschen, die sich nicht mehr erinnern können, wann sie das letzte Mal wirklich glücklich waren. Und Menschen, denen es schwer fällt sich zu reflektieren, eigene Ressourcen zu finden und so weiter. Es ist ein andauernder Teufelskreis und einfach nur grauenvoll. Ich habe schon lange immer wiederkehrende depressive Phasen. Doch ich habe noch viel, viel mehr immer wiederkehrende sehr glückliche Phasen und die lassen mich weiterhin darin vertrauen, dass dies meine wahre und sich immer mehr entfaltende Natur ist. Nicht andersrum.

Aber was hilft dann?

Für diesen Tag half, das Marian Maël nahm und ich mich ins Bett verkriechen konnte. Es half, dass Marian mich nicht verurteilte und ich es irgendwann abends schaffte, den Kampf gegen mich selbst aufzugeben. Am nächsten Tag, zermatert und mit den selben Gedanken von Nichtmehrlebenwollen aufstehend, half ein sehr wohltuendes Telefonat mit Marians Mama. Es war der richtige Impuls und es passte einfach. In manchen Situationen, Lebenslagen, manchmal nur in dieser einen Stunde an diesem einen Tag gibt es manchmal niemand anderes, außer diese eine Person, die das jetzt verstehen kann, weil sie es selbst durchgemacht hat und mit genau der Person funkt es dann und es hilft mehr als zehntausend Gespräche mit einem Therapeuten, der dich einfach nicht wirklich sieht.

Am Tag darauf, wieder hauptsächlich Sinnlosigkeit und sehr geringen Selbstwert verspürend am Morgen, half etwas anderes. Nämlich, mich, während Maël bei der Oma war, aufs Bett zu legen und mich voll reinsinken zu lassen. Bewusst. In den größten Schmerz. In die größte Urangst. Die war so präsent wie nie zuvor. Völliges Verlorensein und Abgetrenntsein von allen anderen Menschen, in Isolation und Kapitulation. Innerlich schreiend ohne jemals gehört oder gesehen zu werden. In diesen sehr alten und dennoch so hautnah realen Schmerz ließ ich mich sinken. Ohne Gedanken, nur fühlen. Und ich schaffte es. Ich schaffte es. Ich kam durch. Ich gelangte an den Grund. Licht am Ende eines tiefschwarzen Tunnels. Frieden. Endlich.

Das beschriebene Szenario ist keine ganze Woche her. Was mir seitdem hilft, ist, endlich meine kleine Meditationspraxis und meine innere Einkehr-Oasen über den Tag verteilt wieder einzuführen. Trotz Maël und gerade mit Maël. Es geht. Ich sage ihm dann, dass ich nun meditiere und gleich wieder für ihn da bin, er spielt für sich und es klappt wunderbar, zumindest für 10 Minuten. Alles, was zum Wohle der Mama ist, ist zum großen Wohle des Kindes. Und es MUSS sein. Es ist mein Lebenselexier, die Rückverbindung zu meiner Seele und zu meinen Körperempfindungen und meinem Atem und meinem inneren Ort der Stille – das ist wie Luft zum Atmen für mich. Wenn ich diese tägliche Tempel-Zeit über einen zu langen Zeitraum auslasse, folgt Mini-Burnout, Leere, Starre, Depression oder etwas dergleichen. Für mich ist es tatsächlich eine selbstauferlegte Pflicht, mir diesen Raum zu nehmen. Ist es Pflicht, die To-do-Liste anstatt auf einmal, an mehreren Tagen verteilt abzuarbeiten. Ist es Pflicht, das Vergnügen VOR die Arbeit zu stellen. Ist es Pflicht, mich und meine körperliche Entspannung immer und immer wieder vorn an zu stellen. Die innere Leere ist immer ein Zeichen, dass ich schon längst über meine Grenze gegangen bin. Ist ein Zeichen dafür, wie doll angespannt mein Körper ist. Alles, was es braucht, ist Entspannung. Aber dafür braucht es erstmal Wissen und Verstehen, wie weit die allermeisten Menschen von wahrer Entspannung, körperlich und seelisch, entfernt sind. Wirkliche, tiefe Entspannung. In der tiefsten Entspannung erscheinen mir die in der Welt zu verichtenden „Aufgaben“ und die „Zwänge“ des sozialen Miteinanders nur noch wie Wolken am Horizont, weil klar wird, wie weit weg sie sich von meinem wahren, friedlich vollkommen Selbst befinden und wie wenig sie das berühren, was ich im Kern doch bin.

Nun schreibe ich diese Zeilen schon wieder aus einer anderen Energie. Klarheit hat sich ausgebreitet und Freude bestimmt meinen Tag und ich folge ihr. Morgen kann es schon wieder ganz anders sein. Auch die Wahrnehmung meines Selbst, meiner Mitmenschen und der Welt ist dann wieder eine andere. Es mag für einige Menschen nicht nachvollziehbar sein, doch ich verstehe jeden Menschen, der sich umbringen möchte. Ich verstehe es, denn der eigene Geist kann zu einer einzigen Hölle werden, aus der es scheinbar kein Entrinnen gibt. Doch ich glaube genauso, dass es nicht die Lösung ist. Denn der Geist, aus dem heraus dieser Drang entsteht, ist einer, der nicht mehr klar sehen kann. Der die eigene einzigartige Wundervolligkeit nicht mehr erkennen kann. Jetzt grade kann ich sagen, dass ich unheimlich dankbar für die Erfahrungen der tiefsten Dunkelheit bin, da sie mir mehr und mehr Zugang zu wahrem Mitgefühl gegenüber dem Menschen bringen. Ja, ich strebe nach dem Licht und nach bedingungsloser Liebe, nach Erkenntnis und einem hohen Bewusstsein. Doch ich möchte auch durch und durch das Menschsein mit all seinen Fasccetten ehren, durchleben und feiern. Der Planet Erde ist eine harte Schule. Auch ein Paradies, aber eben auch eine harte Schule. Das empfinde ich einfach so. Punkt. Da gibt es keine Schönrederei. Und wir Menschen haben auch mal eine Auszeichnung, einen fetten Orden verdient, denn wir sind bemerkenswert stark. Den Menschen als Kunstwerk sehen und nicht als halbfertig und ständig noch „zu unbewusst“ oder „zu sehr im Leid“. Ich leide so lange wie ich eben leide. Wenn meine Seele sich ausgesucht hat, bis in meine Dreißiger noch in die tiefsten Abgründe zu blicken, ja, dann ist das eben so. Selbst in dem Wunsch nach Stabilität neige ich dazu, mich unter Druck zu setzen. Also sage ich mir nun einfach, ich bin das alles, ich bin wie ich bin. So bin ich. So bin ich. So bin ich eben….

Der größte Beweis für die reine, aus sich selbst heraus entstehende Freude und goldene Liebe ist der kleine Maël für mich. Gestern, an einem Tag mit gleißendem Sonnenschein auf dem Geibelplatz saß ich auf einer Bank und er lief in tokelnden Schritten und übersprudelnd vor Leben und sich schlapp lachend über die Wiese. Er zieht die Menschen mit in diese fast schon übersinnliche Frequenz. In die Sorglosigkeit, das Jetzt und in die pure Glückseligkeit. Was für ein Geschenk mir mit ihm gegeben wurde und wie oft er meine trüben Gedanken schon wegpusten konnte, einfach durch sein Sein. Auch ich bin ein Mensch voller Freude und er erinnert mich daran, so wie alle Menschen, die bereit sind, sich erinnern zu lassen. Manchmal muss ich ihn nur beobachten und plötzlich ergibt alles wieder Sinn. Wir sind das in das Größere Eingebettete, ein Teil einer Schöpfungsgeschichte, einer Evolution.

In meinem aktuellen Leben sind Sinn und Sinnlosigkeit oft nur einen Tag voneinander entfernt. Tiefster Abgrund, höchster Rausch. Wie finde ich einen Mittelweg, erlösenden Gleichmut? Wie lerne ich, alles als fließende Bewegung wahrzunehmen? Nach wie vor finde ich mich eher fragmentarisch, unzusammenhängend vor und weiß nur schemenhaft in welche Richtung ich möchte in diesem Leben, aber auch, dass es doch letztlich immer wieder um das Jetzt geht und darum, hier den Impulsen zu folgen. So unfertig ich mich auch in dieser Zeit fühle, das bin einfach ich. Es ist ok. Ich weiß aktuell wenig, doch was ich weiß, ist, dass ich meine kleine Familie über alles liebe und sie meine strahlenden Leitsterne sind.

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