In der heutigen Erkenntnis bündeln sich die Ereignisse der letzten Wochen und im Grunde genommen viele, viele Momente meines bisherigen Lebens, die mit Angst oder Wut verbunden waren. Die Erkenntnis lautet: Ich erkenne meine Empfindsamkeit, meine Feinfühligkeit und mein Gefühl als wertvoll und existenzberechtigt an und trete damit gleichzeitig in eine Position des gesellschaftlichen Widerstands ein.
Nach dem morgendlichen Konflikt mit meinem Freund schießen mir auf der Zugfahrt von Hannover nach Hildesheim all die Erinnerungen der letzten Zeit durch den Kopf, in denen ich einen wichtigen Teil meines Mensch- und Frauseins von mir abspaltete. Da Heilung das Geschenk ist, das dir eine Liebesbeziehung offenbaren kann, nehme ich es nun an und realisiere dabei, dass nicht nur ich mich im Bereich des Fühlens selbst verleugne, sondern auch viele andere Menschen. Ich möchte hiermit vorallem an alle Frauen appellieren, denen, wie auch mir so oft, gar nicht bewusst ist, dass sie einen entscheidenden Teil von sich klein reden, unterdrücken, verurteilen, gerade zu verabscheuen.
Als ich heute Morgen aufwachte, war das Gefühl von gestern Abend noch in derselben Intensität da. Das Gefühl, klein zu sein neben meinem Freund, den ich als einen Menschen wahrnehme, der eine scheinbar unerschütterliche Selbstliebe lebt, der laut und leise sein kann und sich mit seinem Selbst in der Welt nie verloren fühlt (natürlich tut auch er dies ab und zu, aber das will mein Ego in solchen Momenten nicht wahrhaben). Der niemanden braucht, um eine Lücke zu füllen, sondern der sich vollkommen genügt und genau so sollte es auch sein in einer gesunden, reifen Beziehung. Mein Verstand weiß das und trotzdem verlangt mein Ego, eine Lücke beim anderen zu füllen, um gebraucht zu werden. Um Daseinsberechtigung zu haben. Dass das der falsche Weg ist, weiß ich natürlich. Und es soll auch gar nicht dazu kommen, dass er von mir abhängig wird, denn dazu ist er auf seinem Weg der Selbstliebe schon zu weit voran geschritten. Gott sei Dank, natürlich. Denn nun bin ich an der Reihe und wusste das bereits am ersten Tag, als wir uns kennen lernten: Ich bin damit an der Reihe, unabhängig von seiner Bestätigung neben ihm zu stehen, ohne dass er mir gegenüber eine Abhängigkeit verspürt. Damit, mich selbst als Frau sowie seine Liebe anzunehmen und darin zu vertrauen, von ihm in all meinem Sein akzeptiert zu werden. Vor allem in meiner empfindsamen, ruhigen und meistens nicht so extrovertierten, lauten Art wie seiner.
Ich fühlte die Wut und den Schmerz in mir, aber gab mich hart nach außen. Er sprach zu mir und ich merkte, dass ich reagierte, wie ich es schon so oft tat: Ich betrachtete ihn als Feind. Meinen eigenen Freund, der mir gegenüber seine aufrichtige Liebe wieder und wieder offenbart hatte, war für mich in diesem Moment Feind, Konkurrent. Das sind genau diese angsteinflößenden Momente der absoluten Trennung, in denen mir mein Ego und meine Gedanken weiß machen wollen, dass ich es nicht wert bin, geliebt zu werden und dass ich in meiner Existenz von geringerem Wert sei als er. Er fragte was los sei und ich wusste, dass es eigentlich nichts mit ihm zu tun hatte, was ich antwortete, aber vielleicht ja doch und auch wieder nicht. Dass ich es nicht leiden kann, wenn er mich, auch wenn es aus der größten Entzückung über mein Sein heraus geschieht und es wunderschön ist, als kleines Fröschlein bezeichnet und mich zart und unendlich süß findet, wie ich morgens im Bett liege. Dass ich von ihm nicht als das kleine blonde Mädchen wahrgenommen werden möchte. Dass ich das Gefühl habe, er würde sich manchmal mir gegenüber überlegen fühlen. Dass ich auf Augenhöhe angesehen werden will.
Es ist so erstaunlich: Ich weiß, dass es mein Ding ist. Dass es nichts mit ihm zu tun hat, sondern nur mit mir und dem Annehmen meines fühlenden, manchmal so zarten und fragilen Wesens. Und doch spüre ich irgendwo, dass es auch etwas mit ihm zu tun hat, mit ihm als Mann und mit dem Verhältnis zwischen Mann und Frau im Allgemeinen. Und was dem zu Grunde liegt, ist kein Fehler im Mann sondern im Denken der ganzen Gesellschaft. Es geht um die Verneinung von Gefühlen und das Gleichsetzen von Empfindsamkeit mit Schwäche und Minderwertigkeit, die im zwischenmenschlichen Ereignishorizont tief verwurzelt sind. Ich revidiere hiermit einige Dinge, die ich in meinem letzten Artikel zur Kritik aktueller Feminismen schrieb: Doch. Vielleicht müssen wir Frauen doch noch manchmal kämpfen. Und zwar, in dem wir für uns einstehen, für die Richtigkeit unseres Fühlens und unsere, meistens so wahren, Impulse und Intuitionen. In diesem Kampf scheinen zwei Dinge wichtig zu sein: Dem Mann (nicht in Verachtung, aber in Schärfe) zu verdeutlichen, dass wir in unserem ganzen Sein respektiert werden wollen und damit auch in unserer Empfindsamkeit. Und zum anderen ist es wichtig, dass wir uns selbst immer wieder zur Achtsamkeit aufrufen, wenn wir Situationen begegnen, in denen Gefühle und Gefühlsäußerungen scheinbar (!) keine Berechtigung haben. Lasst uns versuchen, uns nicht mehr selbst zu verleugnen. Unserer eigenen Empfindsamkeit mit unserer eigenen Empfindsamkeit zu begegnen und sie ZU EHREN. Dankbar für sie zu sein, für ein Fühlen, das unser Leben erst lebenswert und reich macht.
Mir wird klar, warum ich mich nach so vielen für mich qualvollen Fahrstunden so leer, nichtig, absolut klein und wertlos fühlte. Weil da jedes Mal ein Mensch, ja, in diesem Fall ein Mann, neben mir saß, der meiner Angst mit Ablehnung entgegen trat und keinen Kanal hatte, durch den er mir Mitgefühl spenden konnte. In mir ereignete sich die Spiegelung der Welt, die sich schon immer in mir ereignete: Ich schloss mich der Verachtung meines Fühlens reflexartig an und verdammte mich selbst für meine Unfähigkeit, meine Gefühle und Gedanken für die Zeit des Autofahrens zu verbannen.
Mir wird klar, warum ich bisher kein einziges Mal mit einem komplett freien Gefühl zu meinem Boxstudio gehen konnte. Immer schwang eine leise Stimme mit, ich müsse mich hier verstellen und irgendetwas verbergen. Es liegt daran, dass der Ort „Boxstudio“ das vielleicht zutreffendste zugespitzte Sinnbild für die in unserer Gesellschaft anerkannten Werte und unausgesprochenen Gebote darstellt: Repräsentation eines unverwundbaren, verschlossenen, leistungsstarken Ichs. Dahinter steht die Angst, etwas falsch zu machen, eine ungenügende Leistung zu erbringen, zu früh schlapp zu machen, sich zuzugestehen aufgeben und scheitern zu dürfen. Angst, in der eigenen Natürlichkeit abgelehnt zu werden. Ja, am Grund all dessen steht die riesengroße Angst vor der Ablehnung des eigenen Selbst, weil es ja bekanntlich nicht anerkannt wird, wenn es nicht „stark“ ist.
Mir wird klar, dass meine Wut in so vielen Stunden der Philosophie-Seminare berechtigt war. Die Wut darüber, dass gerade die Philosophie erkennen müsste, dass sie allein mit der Ratio nicht vollends zur Wahrheit über den Menschen gelangt, denn die Wahrheit über das Leben und den Menschen äußert sich erst in der Vereinigung von Ratio und Gefühl. Die Wut darüber, dass Wörter wie „Intuition“ aus dem Diskussionsraum verband werden, weil sie sich einem gewissen akademischen Anspruch nicht unterwerfen, zur selben Zeit jedoch jeder zweite Wortbeitrag mit den Worten „Ich habe das Gefühl, dass…“ und nicht „Ich habe den Gedanken, dass…“ beginnt.
Mir wird klar, dass ich viel früher zu meinem Empfinden hätte stehen können, damals, als ich fast jedes Mal mit einem niedergeschmetterten Selbstwertgefühl aus einem Literatur-Seminar im zweiten Semester ging, in dem eine Atmosphäre herrschte, die von innerer Anspannung jedes Einzelnen und letztlich der Angst vor Ablehnung nicht hätte größer sein können. In dem fehlleitenden Anspruch, eine Rolle spielen oder eine Fassade der Coolness bewahren und sich dementsprechend ausdrücken zu müssen, ereignet sich in vielen Seminaren und Vorlesungen im künstlerischen Bereich an der Domäne ein absurdes Szenario. Es wird vergessen, wozu man eigentlich hier ist, nämlich dazu, etwas zu lernen, sich mitzuteilen, Thematiken, Künstlerisches und sich selbst in diesen Prozessen kennenzulernen. Stattdessen ist der Fokus total verschoben. Nämlich auf Kleidungsstil, Wortwahl, den vernichtend kühlen Blick und Bewahrung des Eindrucks, man sei ein vor Selbstbewusstsein strotzender Studierender in den emotional total stabilen Zwanzigern. Dass wir alle dieselben Ängste und Wünsche haben und es schon fast lächerlich ist, was wir uns da gegenseitig vorspielen, werde ich in dem nächsten Seminar dieser Art vielleicht einfach mal an die Tafel schreiben, kurz bevor die Sitzung losgeht. Das Augenrollen, was mich erwarten wird, anzunehmen, ist zwangsläufig Teil der Aufgabe dieser Widerstandsleistung.
Und letztlich wird mir klar, warum ich Menschen wie die Sängerin Alice Phoebe Lou so sehr bewundere: Weil sie sich in aller Öffentlichkeit, auf den rauen Straßen Berlins, absolut verletzlich und in zerbrechlicher und zur selben Zeit so unglaublich starker Sensibilität zeigt und damit sogar das verschlossenste Herz für eine kurze Zeit öffnet. Weil das in der heutigen Zeit einen Heidenmut bedarf und in meinen Augen extrem revolutionär ist.
Ich möchte an dieser Stelle meinen tiefsten Dank und meine unendliche Verbundenheit zu einem Menschen auf dieser Welt ausdrücken: Mama. Du hast mir das größte Geschenk meines Lebens gemacht, mich in dieser Empfindsamkeit vollkommen anzunehmen. Du warst immer, immer, immer ein Auffangbecken für meinen Schmerz und ein Hafen für meine Einsamkeit mit diesen intensiven Gefühlen. Du hättest mich für mein Fühlen verurteilen und mich abweisen können, sagen können, ich solle mich doch zusammenreißen und „stark“ sein, nicht weinen, wie so viele Eltern es leider tun. Nein, das hast du nie, nie getan. Dafür bin ich dir so unendlich dankbar. Wir beide wissen, was es heißt, sich mit der Intensität gewisser Gefühle allein und dadurch irgendwie falsch zu fühlen. Aber all diese Gefühle haben ihre Berechtigung, ihre darunterliegenden Bedürfnisse haben ihre Berechtigung, sie sprechen für die Zartheit und Komplexität unserer Seelen, durch die wir die Welt in der ganzen Bandbreite der Intensität an Farben, Gefühlen und Eindrücken wahrnehmen. Wir wissen um den Schmerz, der damit manchmal einhergeht und um die Reaktionen anderer Menschen, die ihm seine Daseinsberechtigung absprechen und damit unser Fühlen zu etwas Falschem, Unangemessenem machen. Sie sehen darin eine Gefühlsduselei, eine Unfähigkeit mit den „Härten des Lebens“ umzugehen, eine Ausbeutung ihrer Zeit, sich mit so etwas aufhalten zu müssen, da das doch nicht zur Lösung des Problems beitrage, da… ja, was sind die Gründe dafür, dass der Mensch diesen wertvollen Teil von sich so sehr abspaltet? In meiner Vorstellung einer Gesellschaft, die in größerer Ganzheit lebt, möchte ich einen Politiker im Fernsehen weinen sehen, weil er seine Angst oder Liebe preisgibt und damit aus dem Herzen so vieler Menschen spricht und dafür stürmenden Applaus erntet. Ich möchte zwei sich küssende homosexuelle Männer in der Bahn beobachten und um sie herum die lächelnden Gesichter, die sich an so einem Anblick einfach nur erfreuen, anstatt sich zu ekeln. Ich möchte Müttern und Vätern begegnen, die ihren Kindern in Liebe vorleben, dass Stärke bedeutet, anderen ihre tiefsten Gefühle zu zeigen. Ich möchte Frauen in führenden Positionen erleben, die auf ihre Intuition vertrauen und Unternehmen, die in ihrer Struktur nicht hierarchisch, sondern ebenmäßig bzw. kreisförmig aufgebaut sind.
An den Schluss dieses mir sehr bedeutsamen Anliegens möchte ich die Worte Marians setzen, die mir und auch allen anderen Menschen auf ihrem Weg der Selbstliebe die größte Hoffnung schenken:
„Du hast es für dich tiefgreifend erkannt und bist jetzt auf dem Weg zu heilen und ganz zu werden, tief in dir kannst du glauben, dass es eines Tages soweit sein wird, dass du all die Trennung in dir aufgelöst hast und immer die sein kannst, die du nun mal in Wahrheit bist, vertraue auf deine Entwicklung, so ist der Weg die Heilung, aber auch schon die Ganzheit selbst.“
Ich danke dir für deine berührenden Worte, in denen ich mich so sehr wiederfinden kann. Es ist unfassbar schön zu lesen, wie du deine empfindsamen Seiten als Teil deiner Selbst anerkennst und schätzt. Ich befinde mich momentan auf einem ähnlichen Weg und es tut gut und motiviert, sich in deinem Text wiederzufinden. You go, Girl!
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vielen dank liebe hannah, das freut mich sehr, dass ich dir damit auf irgendeine art helfen konnte!!! viel kraft in deinem prozess ❤
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