Meine Finger verselbstständigen sich und lassen den Cursor der Maus einen neuen Tab öffnen. Der Rausch hat mich längst gepackt, ich kann meine Handlungen nicht mehr kontrollieren. Mit nur noch stockendem Atem tippe ich „Krystal Aranyani“ ein und stürze mich mit Heißhunger auf ihre Videos und Texte.
Es sind meistens starke Frauen aus der spirituellen, empowernden Szene, die ich bewundere und die auf einigen, jedoch nicht auf allen, Ebenen meine Vorbilder sind. Als ich ungefähr 15 war handelte es sich noch um hunderte von Modelfotos: Karlie Kloss, Ali Stephens, Toni Garrn. Ich war süchtig nach ihnen. Meine Bewunderung und mein Neid arteten in eine Art Stalking aus. Ich war fasziniert von ihrer Schönheit, ihrem Dünnsein, aber vor allem von ihrer Art zu sprechen, ihrer Coolness. Immer wieder spielte ich dieselben Interviews ab. Ich verlor mich für Stunden in ihren Persönlichkeiten, konnte einfach nicht aufhören. Meistens wachte ich erst bei einem hastigen Blick auf die Uhr wieder aus meinem zeitlosen Rausch auf und erschrak, dass schon drei Stunden vergangen waren. Es gibt keine größere zeitfressende Maschine als das Internet.
In den darauffolgenden Jahren wandelte sich mein „Objekt der Begierde“ von Models und Schauspielern hin zu „bekannten Gesichtern“ in meiner Heimatstadt, die ich heimlich bewunderte und ebenfalls stalkte, Foto über Foto in mich einsog, aber niemals hätte ich jemandem davon erzählt. Ich schämte mich so sehr dafür. Was für eine riesige Zeitverschwendung und wie überaus erbärmlich. Manchmal erklang leise die Stimme einer Freundin in meinem Kopf, die einmal sagte: „Aber Anna, diese Models – das könntest auch du sein! Hör auf damit, du bist doch wunderschön.“ Ich konnte damals erahnen, was sie meinte, sah mich jedoch weit entfernt von der Schönheit dieser Menschen. Ein ähnliches Spiel ereignete sich zu der Zeit, als ich untergewichtig war und einfach nicht realisierte, wie dünn ich bereits war. Mit dieser Art der verzerrten Wahrnehmung bin ich nicht alleine, ich kenne kaum eine Frau, der es nicht auch schon mal so erging, sei es in Bezug auf ihren Körper oder ihren Charakter.
Mein Internetmissbrauch nahm kein Ende. Facebook, Instagram und vor allem Blogs schöner, schwedischer Mädchen wurden von mir durchforstet. Irgendwann ging es immer weniger um ihre Schönheit, sondern viel mehr darum, was sie machten. Wie kreativ, produktiv, glücklich sie waren. Was für perfekte Fotos eines perfekten Lebens sie posteten. Ich kaufte mir ebenfalls eine Spiegelreflexkamera um mich und mein Leben auf ähnlich bunte und aufregende Weise abzulichten. Es war eine anstrengende Zeit. Nie waren die Fotos und Motive gut genug, die Qualität des Objektivs zu gering, nie kam es dem nahe, was ich auf den Blogs bewunderte. Ich war zunehmend frustrierter. Ich wollte so sein wie sie, mit jeder Faser meines Körpers wollte ich es. Aber ich verstand nicht, dass das nicht mein Weg war. Selbst wenn ein Außenstehender eine ähnliche Qualität in den Fotos entdeckt hätte, wie ich sie auf den Blogs sah, hätte ich es nicht realisiert. Neid macht dich blind für das Original, das du bist, sagte einmal Laura Malina Seiler. Mein Blick auf mich selbst war vollkommen gestört. Mein Selbstbild fern von jeder Realität. Jeder Neid-Rausch am Nachmittag hatte fatale Folgen: Er zerstörte mich. Mit jedem Klick auf ein neues Foto schrumpfte ich ein Stück mehr. Ich wurde kleiner und kleiner, der Neid vergrub mein Licht bis es schließlich komplett erloschen war. Es gibt nichts Toxischeres und Gefährlicheres für mein Selbstvertrauen und meine Selbstliebe als den digitalen Neid-Rausch. Egal, wie wohl ich mich vorher in meiner Haut oder stark oder genau richtig ich mich fühlte, meine Sucht ließ mich jedes Mal leer, düster und selbstverachtend zurück. Die Bilderfluten dieser ganzen Mädchen und Frauen saugten meine Selbstliebe auf wie ein Staubsauger. Ja, es war und ist eine Sucht. Kontrollverlust, nicht aufhören können. Ein Klick zu viel und schon bin ich wieder drin.
Heute bin ich dankbar sagen zu können, dass ich diese Sucht um einiges besser im Griff habe. All die Blogs interessieren mich nicht mehr. Was Instagram betrifft, musste ich mich selbst austricksen und blockierte die Seite in meinem Browser, was bekloppt klingt, jedoch wirkt. Trotzdem bin ich noch längst nicht geheilt, es ist ein Prozess. Er erfordert Bewusstheit und Achtsamkeit, immer wieder. Mein Drang, mich mit anderen Frauen zu vergleichen ist durch den Instagram-Entzug nicht vollständig gebremst, er geht im Kopf weiter. Es gibt keinen anderen Weg als jedes Mal, wenn mein Geist anfängt, nach den Bildern des Vergleichs zu greifen, ein radikales STOPP zu setzen. Es ist ein schlichter, jedoch wirksamer Weg und eine Sache der allmählichen Gewöhnung. Ich bin überzeugt, dass ich bei konsequenter Verfolgung dieses Ansatzes der Umprogrammierung meines Gehirns eine Heilung erreichen kann. Die neuronalen Verknüpfungen sind wie Skipisten; je öfter wir sie befahren, desto ausgeprägter werden sie und sind dementsprechend immer leichter zugänglich. Etwas anderes, das mir hilft, ist die Entwicklung eines neutralisierenden Gleichmuts, der dem Neid den Wind aus den Segeln nimmt und mich in die Realität zurückholt. Anstatt bei der nächsten tollen Frau, die um die Ecke biegt, wieder auf den längst bekannten Zug aufzuspringen und mich im Drama meiner eigenen vermeintlichen Unzulänglichkeiten zu verlieren, ermöglicht mir eine gleichmütige Haltung zu sagen: Es ist, wie es ist. Ich bin an diesem Punkt in meinem Leben und sie an einem anderen. Vielleicht hat sie etwas, das ich nicht habe, aber es ist egal. Sie wird genauso ihre Macken haben, so wie jeder Mensch. Vielleicht hat sie bereits ihre Erfüllung im Beruf gefunden, dafür habe ich eine wunderschöne Beziehung, für die ich unglaublich dankbar sein kann. Es gibt keine andere Möglichkeit auf diesem Planeten, als meinen Weg zu gehen. Es ist, rein logisch betrachtet, unsinnig und illusionär, Zeit und gedankliche Kraft in das Nähren des Neids zu investieren. Will ich wachsen, bleibt mir nichts anderes übrig, als mich ausschließlich auf meinen Weg zu konzentrieren, bei mir zu bleiben. Bei meiner Wahrheit, meinem Herzen, meinem inneren Zuhause. Und wie schön es dort ist! Warum habe ich diesen Platz verlassen, denke ich jedes Mal wieder, wenn ich es geschafft habe, bei meiner inneren Mitte anzukommen. Hier liegen all meine Fähigkeiten, meine Schönheit innen wie außen, mein Sanftmut. Der Neid schaffte es bereits, mich im Leben voranzutreiben, war mir weiser Lehrer meiner eigenen, noch nicht gelebten, aber hervordrängenden Anteile, die sich mir im Außen spiegeln. Alles, was wir im Außen bewundern, ist auch in uns selbst. Was uns von diesen Menschen unterscheidet ist lediglich, dass diese Menschen bereits ausleben, was in uns selbst noch auf seine Aktivierung wartet.
Im Vergleich zu Zeiten meines 15-jährigen Ichs, ist mittlerweile noch ein weiterer heilender Faktor hinzugekommen: Dadurch, dass ich das Gefühl habe, immer mehr den Weg meines Herzens und meiner Seele zu gehen, weiß ich, dass auch ich in 10 Jahren an einem Punkt im Leben sein werde, den ich mir heute noch gar nicht vorstellen kann. Ich bin auf meinem Weg genau an der richtigen Stelle, gehe ihn in meinem Tempo. Ich liebe meine Seele, liebe mich in ihren Wünschen aufgehen sehen.
Als ich somit gestern am Laptop saß und sich ein Rausch anbahnte, ich sogar bereits dabei war, Instagram freizuschalten, da nahm ich genau in diesem Moment einen Schmerz war, irgendwo rechts an meiner Hüfte. Ich habe keine Ahnung, wo genau der Schmerz herkam, er bewirkte jedoch, dass ich einen kurzen Moment aufmerkte. Das Stechen sagte mir irgendwie: Lass es sein. Hör auf damit. Jetzt. Ich atmete tief durch, schloss das Fenster, klappte den Laptop zu. Ich hatte es geschafft, für dieses Mal hatte ich es geschafft. Einmal weniger war ich Opfer der Sucht gewesen, hatte meiner Seele den Respekt gezollt, den sie verdient.