Vollkommen unperfekt: ein Projekt

Wir sind junge Frauen und Männer und wir haben Selbstzweifel. Wir denken von anderen, dass sie keine hätten. Wir beneiden andere, wir stellen uns in Konkurrenz zueinander. Wir verwechseln Selbstdarstellung mit Selbstliebe.

Es wird höchste Zeit, für unseren Austausch. Es wird höchste Zeit, für all die Gedanken, die scheinbar so wenig in der Öffentlichkeit verloren haben und dennoch allgegenwärtig in uns sind. Für Gespräche, für Aufmerksamkeit, für Gemeinsamkeit und kein Einzelkämpfertum. Gegen Perfektionismus und für natürliche Vollkommenheit. Es klingt kitschig, ist aber wahr: Du bist NICHT allein.

Die Ereignisse überschlagen sich und jedes für sich ist das Zeichen für mich: Tu was!

Ereignis 1: Ich bin dabei, mit zwei Freundinnen unseren Wellness-Gutschein einzulösen, Spa-Bereich, Sauna, textilfrei. Ich denke, sie sind sich bewusst, was auf sie zu kommt. Ich freue mich auf einen Nachmittag, an dem wir uns etwas wirklich Gutes tun. Wir sind in der Umkleide, ich bin bereits nackt, da kommt eine der beiden zu mir und fragt unsicher: „Sag mal, wie ist das jetzt, wirklich textilfrei?“ „Klar!“, sage ich, „ist doch Sauna!“ Und schnell realisiere ich, dass diese Angelegenheit für die beiden kein Genuss, sondern reine Tortur ist. Ich sehe es ihnen ins Gesicht geschrieben: Sie hassen ihre Körper. Sie schämen sich für ihr Gewicht. Sie wollen da nicht nackt reingehen.

Ich versuche, sie zu beruhigen und ihnen zu versichern, dass es schon nach dem ersten Saunagang um einiges entspannter ist. Letztlich zieht eine der beiden mit, sie entspannt sich allmählich und klagt mir dennoch die Zweifel über ihren Körper, seitdem sie ein paar Kilos zugenommen hat und das Abnehmen trotz geringer Essensaufnahme kaum funktioniert. Meine andere Freundin hingegen verlässt uns schon nach wenigen Minuten, sie ist den Tränen nahe. Ein Ort, der eigentlich für Entspannung und sich-selbst-etwas-Gutes-tun steht, wird für diese beiden jungen Frauen zum Auslöser für Scham und Selbsthass. Ich frage mich: Welche extrem hohe und widerliche Stellung hat das Aussehen des Körpers in Bezug auf die Definition des eigenen Selbstwertgefühls eingenommen? Und darüber hinaus, warum ist eigentlich Nacktsein für viele ein Problem?

Ereignis 2: Samstagabend, meine Freundin Isa ist zu Besuch und wir sitzen in einer Bar in Hildesheim. Wir sehen uns nicht oft, aber was uns schon immer verbunden hat ist die Empfindsamkeit und der Schmerz, den wir teilen. Die zeitweilig immer wiederkehrende Angst vor dem Leben, das Gefühl vor einem Abgrund zu stehen, nicht liebenswert zu sein. Und eben, was wir auch teilen: Ermutigung, wenn eine von uns gerade zweifelt, Anerkennung für unser Sein, uns einen Spiegel vorzuhalten, uns zu zeigen wer wir sind, wenn wir uns mit Liebe anschauen und unser verzerrtes Selbstbild wieder mit der Realität abgleichen. Während wir unser zweites Bier trinken, berichte ich von dem Sauna-Besuch und unser Gespräch wird zunehmend ernster und leidenschaftlicher: Verdammt, warum zweifeln so viele von uns? Es kann die schönste, intelligenteste, liebenswürdigste  junge Frau sein, die dir je begegnet ist – in 90% der Fälle wird auch sie: sich in ihrem Körper unwohl fühlen, zumindest an einigen Tagen und sich deswegen weniger wert fühlen, sie wird sich mit anderen jungen Frauen vergleichen, sie denkt, nicht zu genügen, sei es mit ihrem Aussehen, mit dem was sie tut oder mit ihrem gesamten Leben. Und das muss sich ändern  !

Ereignis 3: Ich sitze mit zwei Freundinnen zusammen. Einer von ihnen geht es schon seit Jahren nicht gut, sie ist durch Essstörungen und selbstverletzendes Verhalten geprägt,  kann sich selbst einfach nicht annehmen. Was erstaunlich und viel eher erschreckend ist, dass ich ihr diese Selbstzweifel kaum ansehe. Auch sie selbst meint, sie sei gut darin sie zu verdrängen und auch darin, eine Maske aufzusetzen. Doch nun kommt sie um den nächsten schweren, aber doch so wichtigen Schritt nicht herum, den Schritt Richtung Heilung, z. B. mittels einer Therapie. Der erste Schritt Richtung Selbstliebe und –akzeptanz ist unausweichlich, wenn man, so glaube ich, eine gute Beziehung führen will. Die Beziehung zwingt sie dazu und das ist genau richtig, es ist eine große Chance. Durch meine eigene Beziehung und die Auseinandersetzung mit ihren Mechanismen weiß ich, dass Beziehungen heilende Kräfte besitzen können. In diesem Moment realisierte ich:

Es ist Zeit für dieses Projekt. Um uns selbst zu helfen – uns jungen Frauen und Männern! Wir mögen in einer äußerlich weitaus emanzipierteren Gesellschaft als noch vor 100 Jahren leben. Jedoch sind wir Frauen noch längst nicht geheilt. Wir tragen die Wunden unserer weiblichen Vorfahren in diese heutigen Welt und es wird Zeit, daran glaube ich sehr stark, dass wir sie nach außen tragen anstatt zuzulassen, dass sie uns von innen zerfressen! Hierbei geht es mir in erster Linie nicht um das Verhältnis von weiblichem und männlichem Geschlecht, sondern um das Verhältnis von uns selbst zu uns selbst! Ich will der Frau keine Opfer-Rolle anheften, sondern sie ermutigen, aus ihr herauszutreten. Ich wünsche mir, dass es immer mehr zur Normalität wird, über seine Schwächen, Ängste und vermeintlichen „Fehler“ zu sprechen. Nicht nur Frauen soll dies eine Plattform sein, sondern genauso den Männern. Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der es natürlich ist, dass auch Männer über Selbstzweifel, Ängste und Gefühle sprechen können ohne dass diese Öffnung mit männlicher Schwäche in Verbindung gebracht wird.

Darüber hinaus und das Thema unmittelbar beeinflussend, geht es mir auch um die Infragestellung „sozialer“ Netzwerke, Plattformen wie Facebook und vor allem Instagram. Was bringt uns Instagram? Wozu ist es wirklich nutze? Ich habe diese Internetseiten für mich jahrelang als zeitfressende sowie neid- und frustproduzierende Maschinen erlebt, die mir mein Selbstvertrauen rauben und mich mit Informationen über die Leben anderer Menschen zuballern, die absolut irrelevant und zu viel für mich sind. Darüber hinaus frage ich mich, wie kommt es zu dem Drang, sein eigenes Leben (natürlich nur die tollen Momente) haarklein darstellen und anderen präsentieren zu müssen? Es ist eine ernst gemeinte Frage und ich bin gespannt auf andere Meinungen und Empfindungen, die ich zu diesem Thema bekommen werde.

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